Diskussion
Bei der therapeutischen Anwendung der Akupunktur geht man davon aus, dass Reizsetzungen an spezifischen Lokalisationen der Haut, den Akupunkturpunkten, zu reflektorischen Veränderungen in der Funktion innerer Organe führen. Viscerocutane Reflexe bzw. cutiviscerale Reflexe über Triggerpunkte (10) sind seit Head bekannt und ein mögliches Substrat für die Wirkung der Akupunktur. Verschiedenste Effekte der Akupunktur sind wissenschaftlich nachgewiesen: Lokale Steigerung der Perfusion (11) und Oxygenierung (12,13), Senkung des Muskeltonus (14), Immunmodulation und antiinflammatorische (15) Wirkung. Zudem wirkt Akupunktur auf das Zentralnervensystem (16) durch Freisetzung von Endorphinen und Enkephalinen (17,18,19) sowie zur Veränderung der Liquorspiegel von Serotonin, Acetylcholin und anderer, neurophysiologisch wirksamer Substanzen, was zu einer Erhöhung der Schmerzschwelle führt (20,21).
In der Anwendung der Akupunktur werden drei Stufen unterschieden: Die einfachste Form der Akupunktur ist die sogenannte "locus dolendi Akupunktur", wobei eine Stimulation einer Hautzone mit Nadel oder Erwärmung in unmittelbarer Nähe des erkrankten Körperteils durchgeführt wird. Die zweite Stufe der Akupunktur verwendet sogenannte Fernpunkte, von denen bekannt ist, dass sie reflektorisch im erkrankten Körpergebiet z. B. eine erhöhte Durchblutung auslösen können, auch wenn sie vom Zielgebiet weit entfernt liegen. Bei der Anwendung der dritten und komplexesten Stufe, der "konstitutionellen Akupunktur", versucht der Therapeut, auf die grundlegenden, konstitutionellen Maldispositionen eines Patienten einzugehen, diese durch die Wahl geeigneter Akupunkturpunkte auszugleichen und so einen möglichst tiefgreifenden und dauerhaften Therapieeffekt zu erzielen.
Radiologische und computertomographische Untersuchungen zeigen eine mäßig- bis mittelgradige Spondylose, Coxarthrose, Gonarthrose und Sprunggelenksarthrose an der tiroler Gletschermumie (22 ). Es ist anzunehmen, dass diese pathologischen Veränderungen Schmerzen in den betroffenen Wirbelsäulenabschnitten und Gelenken induzierten. In der klassischen Akupunktur werden Lumbalgien durch Stimulation des entlang der Wirbelsäule ziehenden Blasenmeridians therapiert.
Im Fall des Gletschermannes finden sich Tätowierungen direkt über der arthrotischen LWS sowie über den degenerativ veränderten Beingelenken. Die tätowierten Areale liegen gleichzeitig in der Nähe bzw. auf klassichen Akupunkturpunkten des Blasenmeridians (5). Dies entspricht einer Stimulierung im Sinne einer "locus dolendi Akupunktur".
Auch die zweite Akupunkturstufe der Anwendung von Fernpunkten kann an der Gletschermumie nachgewiesen werden: In der gesamten Akupunktur-Literatur ist der Punkt "Blase 60" als Meisterpunkt für Schmerzen entlang des Blasen-Meridians angeführt (7,8,9). Genau im Bereich dieses Punktes liegt hinter dem linken Außenknöchel ein tätowiertes Kreuz (5).
Sogar die komplexeste Stufe, die konstitutionelle Akupunktur, kann beim Gletschermann belegt werden: Zur Therapie von tiefliegenden, arthrosebedingten Schmerzen, Knochen- und Gelenksveränderungen und Beschwerden, die sich vor allem unter Kälteeinfluss verstärken, werden noch heute in der Literatur vor allem zwei Punkte angegeben (7,8,9): Blase 23 in der Höhe des 2. und 3. Lendenwirbelkörpers, zwei Fingerbreiten (1,5 cun) lateral der Dornfortsätze (Abb. 2) und der Punkt Niere 7, zwei cun oberhalb des Innenknöchels direkt vor der Achillessehne gelegen (Abb. 3). Diese beiden Punkte wurden beim Mann aus dem Eis exakt getroffen.
Somit kann festgestellt werden, dass durch diese Befunde eine Stimulation von Akupunkturpunkten mittels Tätowierungen für ein an der Gletschermumie radiologisch nachgewiesenes Krankheitsbild sehr plausibel erscheint. Der in dieser Studie untersuchte Mann lebte vor 5200 Jahren in Mitteleuropa. Damit ist die bis dato gängige Vorstellung fraglich, dass die Akupunktur im fernen Orient entwickelt wurde und in unserem Kulturkreis keine entsprechenden Therapieformen vorhanden waren. Auch das Alter der Akupunktur, das bisher mit etwa 3000 Jahren angegeben wurde, muss um über 2000 Jahre auf 5200 Jahre revidiert werden. Die hochentwickelte Form der Akupunktur, die sowohl auch heute noch gebräuchliche Fernpunkte als auch konstitutionelle Punkte verwendet, lässt auf möglicherweise noch früher zu datierende Ursprünge schließen. Der jungsteinzeitlichen mitteleuropäischen Medizin wird damit zukünftig ein wesentlich höherer Entwicklungsgrad zuerkannt werden müssen, als bisher angenommen wurde.